Über "Messias Humor"

Mit Humor und ungesperrtem Denken zur Entlarvung des Staates von Max Heigl (2005/2019)

 

Habent sua fata libelli. Der Satz, daß Bücher ihre Schicksale haben, trifft in ganz besonderem Maße auf das vorliegende Buch zu.

Das Manuskript

Ewald Gerhard (EWGER) Seeliger (1877-1959) plante 1927 eine Gesamtausgabe seiner Romane, und eine Autobiographie, die er Roman der Magie untertitelte, sollte die Edition eröffnen oder abschließen. Er sandte das Typoskript an die J.G.Cotta´sche Buchhandlung Nachfolger in Stuttgart und bekam folgende Absage:

„Für das freundliche Angebot Ihres neuen Werkes Gott Humor bestens dankend, bedauern wir sehr, Ihnen mitteilen zu müssen, daß wir uns um den Verlag nicht bewerben können, da uns die Ausführung einer Reihe z.T. sehr umfangreicher vertragsmäßiger Verlagsverpflichtungen auf absehbare Zeit größte Zurückhaltung in der Übernahme neuer Werke gebietet.“

27 Jahre später lehnte auch der Ullstein-Verlag ab:

„Ihren Lebensbericht Roman der Magie Weltmarschall Humor haben wir eingehend geprüft und sowohl die Frage einer Buchausgabe als auch die einer Veröffentlichung in unseren Zeitungen und Zeitschriften diskutiert. Bedauerlicherweise mußten wir hierbei aber auch zu einem negativen Ergebnis kommen. Wir sind der Ansicht, daß der Bericht für den zeitgeschichtlich interessierten Leser zwar eine sehr amüsante und fruchtbare Lektüre ist, daß aber das breite Leserpublikum, auf das sich unser Verlag seit jeher eingestellt hat, kaum ein großes Interesse zeigen dürfte. Wir schlagen Ihnen deswegen vor, sich an einen Verleger zu wenden, der mit seinen Publikationen das für Ihr Werk erforderliche exquisite Publikum anspricht.“[1]

Im Januar 1957, als Seeliger gerade im Begriff stand, seine PARADIES Verlag Aktiengesellschaft zur Veranstaltung einer Gesamtausgabe seiner Werke zu gründen, sandte er das Typoskript an 23 Verlage in Deutschland und der Schweiz. Acht Verlage zeigten Interesse; der nur fragmentarisch erhaltene Nachlaß enthält aber keinen Hineis auf den Inhalt der Antworten. Jedenfalls kam es nicht zur Publikation, und das Typoskript, obwohl in mehreren Abschriften existent, schien verschollen. Erst als 1985 auf Initiative des Nachwortverfassers Seeligers Handbuch des Schwindels aus dem Jahr 1922 im Frankfurter INSEL Verlag neu aufgelegt werden sollte, wurde das Skript im Haus der Schwiegertochter Seeligers gefunden und dem Nachwortverfasser zur Auswertung überlassen.

Leider ist dieses Typoskript, das die Basis der vorliegenden Edition bildet, nicht vollständig: vier Kapitel fehlen ganz, und der übrige Text weist Lücken auf, die gerade an besonders brisanten Stellen den Zusammenhang erschweren. Da Seeliger nicht, wie heutzutage selbstverständlich, gewünschte Seiten beliebig oft kopieren konnte, nahm er offenbar aus den Exemplaren Teile heraus als Leseproben für Verlage oder fachlich kompetente Personen, von denen er sich Referenzen erwartete. Nicht immer bekam er diese Leseproben zurück, und solcherart wurde vermutlich auch das unserer Ausgabe zugrunde liegende Exemplar um etwa ein Viertel seines Umfangs reduziert.

Seeliger hatte in den Bombennächten in Hamburg 1940 einen Großteil seines Skripten- und Notizenmaterials verloren und sah sich nach dem Umzug zu seinem Sohn nach Cham/Oberpfalz gezwungen, viele unveröffentlichte Texte weitgehend aus der Erinnerung wiederherzustellen. Er überarbeitete dabei auch bereits publizierte Werke, aktualisierte sie entsprechend seiner intellektuellen und weltanschaulichen Entwicklung, und mit den Texten veränderte er häufig auch ihre Titel, was dem Forscher die jeweilige Zuordnung zusätzlich erschwert.

Der ursprüngliche Titel des vorliegenden Buches lautete 1927 Gott Humor. 1953/54 hieß das Werk in der dem Ullstein-Verlag angebotenen Fassung Weltmarschall Humor. Roman der Magie. 1956 sandte er Teile des Manuskripts mit dem Titel Die Welteidgenossenschaft oder die Entlarvung der Horden an den Literaturwissenschaftler Walter Muschg in Zürich. Zwischen diesem Datum und der letzten autorisierten Fassung hatte er kurzzeitig den Titel in Zauberstab Humor oder die Entlarvung der Horden abgewandelt, und in Angebotsbriefen an zwei Verlage wies er ausdrücklich darauf hin, daß der Titel nun endgültig lauten sollte: Messias Humor oder die Entlarvung der Horden.

Der Begriff „Hominidissimus“ ist Seeligers ureigene Wortschöpfung, mit dessen Hilfe er Denken und Richtiges Denken, Un-Menschen und Menschen, also Hominiden und Hominidissimi zu unterscheiden pflegt.

Ewger Seeliger

Nach Seeligers Vorstellung ist der Hominidissimus die höchste Entwicklungsstufe des Menschen; er unterscheidet sich vom Hominiden (nach Duden: Menschenartige) durch die Fähigkeit zum Richtigen Denken vom falsch denkenden Gruppen- (= Horden-)Menschen, der noch in Ideologie- oder Hordenbindung befangen und noch nicht zum frei, autonom, „ungesperrt“ denkenden und lebenden Hominidissimus fortgeschritten ist. „Ungesperrt“ ist eine von Seeligers Lieblingsvokabeln, um den Hominidissimus und die freie Menschheit zu charakterisieren. In letzter Konsequenz zielt demnach die Entwicklung der Menschheit auf die Welteidgenossenschaft ab, eine Genossenschaft freier Menschen auf ungesperrtem, also freiem Grund und Boden: eine Form positiver Anarchie, letztlich aber eine gut gemeinte Utopie: „Seeliger ist tatsächlich im wahrsten Sinne des Wortes ein ´Anarchist´. Seinen Anarchismus darf man aber nicht mit dem fälschlicherweise so genannten der Bombenwerfer verwechseln: Seeliger fordert Herrschaftslosigkeit, wobei sowohl der herzustellende Zustand als auch der Weg dorthin gewaltlos sein müssen.[2]

Wer ist nun dieser selbsternannte Hominidissimus, der jedem „ungeflügelten irdischen Zweibeiner“[3] und Falschdenker zum Richtigen Denken verhelfen will? Namhafte Literaten und Literaturkenner haben sich von Seeliger begeistern lassen.

So nennt ihn Hans Wollschläger einen

„Feuerreiter der Aufklärung, neben dem die philosophischen Staatskatheder allesamt husch, in Asche abfallen.“[4]

Jörg Drews attestiert ihm den

„Triumph des Seeligerschen Prinzips ´Messias Humor´: Unversperrtheit, Respektlosigkeit, Frechheit, dabei unbedingte Gewaltfreiheit – dies gehörte zum Kern des in den Grundzügen durchaus aufklärerischen Denkens von Seeliger [...] voll analytischen Scharfsinns und zugleich voller wortreichem Geschimpfe und hemmungsloser Beredsamkeit; ihre Argumentation ist mäandrierend-assoziativ, die Suada an einigen wenigen Stellen auch vernagelt, aber kaum je wirklich dumm und vor allem nie langweilig.“[5]

Wolfgang Harms bestätigt ihm

„eine sprachliche Meisterschaft, die über bloße Eleganz weit hinausgeht [...], sympathische[n] Vernunftoptimismus und satirische[n] Scharfsinn.“[6]

Jürgen Lodemann nennt ihn

„eine witzige und sprachbegabte und aufgeklärte Figur[...], in ihren besten Momenten wie eine Mischung aus Karl May und Joyce [...] von einer politischen Hellsicht [...], einen poetischen Röntgen-Geist am Werk.“[7]

Erhard Schütz schreibt über ihn:

„[...] er war ein graphomanischer Großkauz, wie er nur im Buche steht! [...] Dabei explodieren diesem närrischen Kapuziner regelmäßig die Worteinfälle, da schwirren nur so die Wortbrocken zwischen Rabulistik und Rabelais [...], Kreuzung aus Karl May und Jean Paul.“[8]

Diese Würdigungen beziehen sich auf das Handbuch des Schwindels, und Erhard Schütz sieht, bezogen auf die 1929er Neufassung des Bestsellers Peter Voß, der Millionendieb, in Seeliger einen der

„nicht eben häufigen deutschen Literaturkäuze [...].Ein Verbosnik, Skriptomane, Meinungskolportant – sprachlicher Gewalttäter, aber Pazifist, lammfriedlich, aber Querulant.“[9]

Uwe Dick erkennt in Seeliger einen Gesinnungsfreund:

„Wie oft mochten sie ihn denunziert haben – gar als menschenfeindlich? Nur weil er mit Courage, Witz und List im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, unter den Hakenkreuzlern und zur Adenauer-Zeit die permanent menschenfeindliche Macht des Staates öffentlich vorgeführt hat. Alle Ausreden der Unterlinge sind glatt widerlebt von seinen Gefängnis-Schweijkiaden. [...] Denk an Seeliger. Der wurde in Haar eingewiesen und prompt entlassen: Zu verrückt für die Anstalt. Übung macht den Meister. Zivilcourage ist in jedem Falle lustiger als angepaßte Langeweile, Mut befreiender als Feigheit, der Kampf aus der Sicht des Zwerges spannender als aus des Riesen machtverblödetem Zyklopenauge.“[10]

Wie Seeliger sich selbst sah, ist nachzulesen im Artikel „Seeliger“ im Handbuch des Schwindels, der am Anfang dieser autobiographischen Fragmente zu lesen ist. Aus dieser Selbstdefinition erhellt, daß er und seine Hominidissimus-Idee zwar ernst, aber nicht todernst genommen werden wollen. Das Motto am Ende seines Handbuchs des Schwindels ist dafür Zeugnis genug: „Wer dieses Buch ernst nimmt, der will, daß ich mich über ihn lustig mache.“Im Messias Humor betont Seeliger immer wieder seine pazifistische Gesinnung, die ihm zum Zeitpunkt der Arbeit am autobiographischen Text zweifellos zuzuerkennen ist.

Einige von ihm am Beginn des 1.Weltkriegs verfaßte Kriegslieder, wie Lüttich.Patriotisches Volkslied[11] (11), belegen jedoch, daß auch er für den nationalen Überschwang von 1914 durchaus empfänglich war, zumindest bereit war, entsprechende Texte zu verfassen. Solche zeitweilige Abirrungen von seiner Grundeinstellung teilt er mit vielen sehr namhaften deutschen Intellektuellen dieser Zeit. Jahrzehnte später versucht er im Messias Humor diesen Irrtum zu relativieren und interpoliert ex post eine durchgängige pazifistische Grundhaltung in das Werk, indem er sich z.B. gegenüber dem Frontkämpfer Dehmel betont ironisch äußert. Unzweifelhaft ist aber, daß Seeliger schon während der Kriegszeit dem Hurrapatriotismus gründlich abgeschworen hatte und zum radikalen Kritiker von jeder Art von Gewalt wurde. Die geistige Begegnung mit dem Erzhumanisten Erasmus von Rotterdam Anfang der 1920er Jahre mag diese Einstellung verstärkt haben.

Was sind nun diese Fragmente – Autobiographie oder Roman, sachlicher Bericht oder Fiktion? Seinen Hominidissimus-Experimenten zuliebe hat er auf faktische Präzision großteils verzichtet und die drei Vorgänge, die seinen Experimenten zugrunde liegen, zu zentralen Themen des Buches gemacht.

Hominidissimus-Experimente

Mit allen drei Experimenten versucht Seeliger zu zeigen, wie Horden (Staat, Kirche, Militär, Justiz u. A.) mit einem unbequemen Nonkonformisten umgehen, wenn er ihnen nachweist, daß sie „falsch denken“ und daß ein Richtigdenker jeder falsch denkenden Herrscherhorde überlegen ist. Im Zentrum des Experimentes steht also das „Richtige Denken“. Dieses ist, in groben Umrissen skizziert, an sieben Komponenten zu erkennen:[12]

Richtig denken heißt:

  1. die Wahrheit sprechen, die Dinge richtig bezeichnen, nicht zweideutig, verschleiernd oder falsch benennen, die Wörter beim Wort nehmen. „Sie [die Wahrheit d.V.] ist das richtige, widerspruchslose, allmächtige Denken.“[13]
  2. miteinander denken, nicht gegeneinander. „Was könnten die anderthalb Milliarden Menschen [Stand ca. 1922 d.V.] vollbringen, wenn sie sich endlich als einige, ewige Menschheit erkennen wollten!“[14] Konträre Positionen sieht Seeliger nicht als „Anti-“, sondern als „Nicht-“.[15]
  3. Mut und Zivilcourage zeigen. „Wer Angst hat, denkt falsch.“
  4. die Sprache unabhängig und kreativ gebrauchen, Wörter und Sätze und damit Gedanken selber schaffen, statt in Fertigformeln zu sprechen. „Wenn ich Sätze brauche, so pflege ich mir diese Gebrauchsgegenstände selbst anzufertigen.“[16]
  5. sich selbst beherrschen und dadurch Fremdbeherrschung verhindern. „Wenn jeder sich selbst beherrscht, was braucht es da einen Herrscher?“[17]
  6. frei und vernünftig denken. „Alle Überzeugungen sind Irrtümer. Die Freiheit des menschlichen Denkens besteht darin, sich stets der besseren Einsicht zuzuwenden.“[18]
  7. Richtig denken heißt schließlich: lustvoll denken. „Das Denken ist die schwerste, aber auch die lustigste aller menschlichen Arbeiten. Das Denken ist die göttliche Arbeit der Menschheit.“[19]

Seeliger plazierte seine Hominidissimus-Exprimente in drei politische Systeme Deutschlands: Weimarer Republik, Drittes Reich und Bundesrepublik Deutschland.

Das erste Experiment kündigte er im Handbuch des Schwindels unter dem Stichwort „Zensor“ unmißverständlich an und sagte den Verlauf richtig voraus:

„Den Schwätzereien eines Verrückten irgendwelche Beachtung zu schenken, ist überaus unvornehm (s. Aristokrat). Sei also nicht solch ein ausgemachter Narr, dies lächerliche Geschreibsel ernst zu nehmen. Vergreif dich nicht an dieser nach deinen Ansichten (s. D.) höchst unglücklichen Buchmißgeburt und beschlagnahme das blöde Geschmier (s.quasseln) nicht [...].“[20]

Das Experiment sollte nicht nur den autoritären monarchischen Obrigkeitsstaat des Kaiserreichs, sondern auch den demokratisch verfaßten Staat der Weimarer Republik als obrigkeitsstaatliche Horde entlarven, die einen autonom denkenden und handelnden Hominidissimus als Störenfried betrachtet und mit Gewaltmitteln zwingen will, sich dem System einzufügen.

Seeliger will erfahren, wie schnell und aus welch fadenscheinigen Motiven im neudemokratischen bayerischen Obrigkeitsstaat ein unbequemer Mahner ins Irrenhaus geraten kann; er will erfahren und zeigen, wie die in Horden organisierten Hominiden einem Hominidissimus, also einem Vertreter der freien Menschheit, begegnen, nämlich mit den Bütteln der behordlichen Macht; er will einen Gerichtssaal gewinnen als Forum für seinen Appell ans Weltgewissen und zur Verkündung seiner welteidgenössischen Friedensidee; er will durch das leibhaftige Beispiel beweisen, daß Zivilcourage und richtiges Denken auch der massiven Staatsgewalt erfolgreich entgegentreten und sie mit den Mitteln des entwaffnenden, weil waffenlosen Humors ad absurdum führen können; er will zu der urhumoristischen Erkenntnis hinführen, daß, wenn sich möglichst viele Menschen für unzurechnungsfähig erklären ließen, sie durch ihre Steuerunfähigkeit dem Staat auf legale Weise die finanzielle Grundlage zur Massenherstellung von Waffen und Kriegsgerät entzögen: status ad absurdum! Und Seeliger will den vor Strafverfolgung schützenden Paragraphen 51 zugesprochen bekommen und dadurch Narrenfreiheit gewinnen im Bewußtsein, daß die wirklichen Narren die anderen sind. (Seeliger weigerte sich bis an sein Lebensende, ordnungsgemäß Steuern zu zahlen, mit der Begründung: „Ich bin doch nicht verrückt und zahle Steuern; ich habs ja amtlich, daß ich verrückt bin.“ Der Staat hielt sich an seinen Erben „schadlos“).

Konsequenzen blieben nicht aus und zeigten sich darin, daß ab 1923 keine neuen Bücher von ihm erschienen, außer einigen broschürten Pamphleten in Selbstverlagen. Der § 51 ließ manchen Verleger vor den Risiken neuer Seeligertitel zurückscheuen. Die erfolgreichen vor 1920 erschienenen Titel wurden hingegen immer wieder aufgelegt. Ein Nebeneffekt dieses ersten Experiments war, daß es dem Erfahrungshungrigen durch den Aufenthalt in einer Heil- und Pflegeanstalt unverfälschte Milieustudien ermöglichte. In der 1929er Ausgabe des Peter Voß hat er sie ausgiebig verwertet.

Beim zweiten Experiment zu Beginn des nationalsozialistischen Regimes 1933 geht die Initiative wieder von Seeliger aus. Er verspottet die totalitäre Staatsmacht (Papierfähnchen) und begegnet deren erwarteter Machtdemonstration (Ortsgruppenleiter von Walchensee), indem er sie lächerlich macht. Die neuerliche, jetzt aus anderer Ursache erfolgende Haft verwandelt er mit friedlichen Mitteln (Humor) in eine Possenszene (Wandbemalung). Vor der Erkenntnis, daß sie nicht ernst genommen wird, resigniert die Tölzer Behorde: Zivilcourage, List und Humor werden durch „Entschutzhaftung“ belohnt. Den Schlägertrupps der SA, die ihm Tage später auflauern, entzieht er sich durch Flucht in die Schweiz; die Konsequenz freilich, Ausschluß aus der Reichsschrifttumskammer mit Verbot neuer Publikationen, verdunkelt den moralischen Triumph.

Beim dritten Experiment in den Anfangsjahren der Bundesrepublik kommt ihm der Staat durch eine juristische Initiative des Landgerichts Aschaffenburg, des Arbeits- und Sozialministers des Landes Nordrhein-Westfalen und der Landesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften in Bonn entgegen: Wie 1922 erfolgen Razzien und Beschlagnahme auf Neuauflagen zweier „obszöner“ Romane Seeligers, Die Abenteuer der vielgeliebten Falsette (1918) und Junker Schlörks tolle Liebesfahrt (1920), die seit ihrem Erscheinen in vielen tausend Exemplaren verbreitet sind und von keiner Seite Beanstandung erfahren haben. Mehr als dreißig Jahre später sollen sie dem Verdikt staatlicher Kulturzensur verfallen. Was bei diesem, von Seeliger listig zum dritten Hominidissimus-Experiment umfunktionierten Justiztheater fehlt, ist die Inhaftierung. Seeliger ersetzt sie, gemeinsam mit Verlegerfreunden, durch ein epistolographisches Trommelfeuer aus Satire und sprachakrobatischer Polemik in so aggressiver Form, daß auch die Justiz- und Zensur-Behorden von „Dussel-dorf“ und „Arsch-Affenburg“ die Paragraphen strecken und das Verfahren einstellen: Erneuter Triumph des Richtigdenkers über machtstaatliche Obrigkeitsfexen, die sich selbst, indem sie mit Kanonen auf Spatzen schießen, als lächerlich entlarven. Die „Enthordnung“ oder „Entlarvung der Horden“ ist zum dritten Mal gelungen!

Seeliger liebte es, in einer Mischung aus Scherz und Selbstironie mit den beiden Nobelpreisen für Literatur und Frieden zu kokettieren. Schon bei Erscheinen seines „Weltromans“ Der Schrecken der Völker bat er den Literaturkritiker Carl Busse in einem Brief vom 5. Juni 1908 um Fürsprache beim Nobelpreiskomitee. Daß er diesen Gedanken zeit seines Lebens mit wechselnder Intensität hegte, erfuhr der Verfasser dieses Nachwortes 1958 in einem persönlichen Gespräch, als ihm Seeliger, befeuert durch einige Stamperl Kirschlikör, augenzwinkernd mitteilte: „Wenn ich erst die beiden Nobelpreise habe (er betonte Nobel stets auf der ersten Silbe), dann können mich die glorreichen Horden alle mal ...“, und er prostete mir feixend zu.

In einem Brief an den Verlag Hammerich & Lesser vom 15.3.1958 schreibt er: „Augenblicklich bin ich mit der Startung meiner PARADIES Verlag-AG beschäftigt, mit dem [sic!] ich einen humoristischen Weltskandal ankurbeln werde.“ Sein Optimismus, was die Wirkung seiner Hominidissimus-Experimente betraf, war offenbar grenzenlos und stützte sich vornehmlich auf Messias Humor - den autobioghraphischen Text, der als Band 1 die Gesamtausgabe eröffnen sollte.

Faktum und Inszenierung

Nehmen wir die schon einmal gestellte Frage nach der Gattung wieder auf: Ist dieses Buch eine Autobiographie oder ein Roman? Wohl keines von beiden in Reinkultur. Zum Roman fehlt ein stringentes Konzept im Aufbau; es gibt kaum Charakterzeichnungen der vielen, meist nur schemenhaft auftauchenden Figuren, die oft nur Stichwortgeber für Seeligers extensive Darlegungen sind; Handlungsträger oder Gegenspieler werden sie nur selten. Der typischen Autobiographie fehlen die Selbstreflexion, der zuverlässige Umgang mit Fakten und oftmals mit präzisen Zeit- und Ortsangaben. Dies mag erklärbar sein durch die Tatsache, daß ein großer Teil des Werkes aus der Erinnerung niedergeschrieben wurde, teilweise ohne verfügbare Dokumente oder Notizenmaterial.

Der Stil entspricht weder der einen noch der anderen Gattung: Der Autor überinstrumentiert stellenweise bis zum Exzeß, auch dort, wo die sachliche Darstellung am Platz wäre. Superlative werden gehäuft und bis an die Grenze des semantisch Möglichen erweitert. Sein erheblicher Originalitätsgestus und sein unentwegter Unfehlbarkeitshabitus wirken bisweilen aufdringlich, auch wenn sie durch den allgegenwärtigen Humor gemildert und sein ureigenes Verständnis von der Narrenfreiheit des Künstlers gerechtfertigt sein mögen.

Sehen wir also die nun für ein „exquisites Publikum“ veröffentlichten autobiographischen Fragmente als eine Mischung beider Gattungen: als romanhaft ausgeschmückte „ Selberlebensbeschreibung“, als Kompromiß aus Faktizität und Fiktion, wobei die Grenzen vielfach verschwimmen.

Faszinierend bleiben – neben der Spurensuche nach dem historisch-faktischen Detail – die kulturphilosophischen Nadelstiche, die eruptive sprachliche Originalität, der „Anblick eines Feuerreiters der Aufklärung“ und die Begegnung mit dem „graphomanischen Großkauz“ Ewald Gerhard Seeliger, dessen Pseudo-Pseudonym EWGER ihm auf selbstironische Weise Dauer verleihen mag.

 

[1] Der Brief von Cotta ist auf den 2. Juni 1927 datiert, das Schreiben von Ullstein auf den 21. Februar 1954.

[2] Bernd Gräfrath, Ketzer, Dilettanten und Genies. Grenzgänger der Philosophie, Hamburg 1993, S 04. Gräfrath, Professor für Philosophie an der Universität Duisburg-Essen, sieht in Seeliger einen radikalen Aufklärer, der beweise, „daß die literarische Form des Romans und ein ironisch-humoristischer Stil eigenständige Mittel der Erkenntnisvermittlung sein können, die für die zu vermittelnden Einsichten angemessener sein können als ein ernster Traktat.“ (S 108) Als entscheidende Größe in Seeligers Strategie sieht Gräfrath das Lachen: „Es entlarvt herrschaftliche Schwindelei, es befreit gewaltlos und es prüft die Richtigkeit der eigenen Sichtweise. Seeligers Ablehnung des Pompösen und Gewaltigen hat dabei auch Auswirkungen auf die Form und den Stil seiner eigenen Werke: Er präsentiert kein Manifest, das als Gründungsdokument einer revolutionären Partei dienen könnte, sondern er macht den einzelnen lachen über pompöse Gewalten, die dem Wohlergehen der Menschheit im Wege stehen.“ (S 92)

[3] Seeliger, Handbuch des Schwindels, 1986, S 286.

[4] Der Rabe Nr. 15, Zürich 1986, S 198-200.

[5] Süddeutsche Zeitung vom 12./13.7.1986.

[6] Abendzeitung Mainz vom 9.2.1987.

[7] Vorwort zu Seeliger, Handbuch des Schwindels, 1986, S 9.

[8] Frankfurter Rundschau vom 6.12.1986.

[9] Berliner Tagesspiegel vom 21.4.1991.

[10] Uwe Dick, Sauwaldprosa, Salzburg 2001, S 554 u.558.

[11] Vgl. Zorndorf (in:R.Gersbach [Hg.]: Kriegsgedichte von 1914, Berlin 1914.

[12] Vgl. Max Heigl: Nachwort in: Seeliger, Handbuch des Schwindels, Frankfurt a. M. 1986, S 304f.

[13] Seeliger, Die Entjungferung der Welt, Wien 1922, S 53.

[14] Seeliger, Die Entjungferung der Welt, Wien 1922, Ebd. S 224.

[15] Vgl. u. a.. die Inschrift auf dem braunen Papierfähnchen vom 1. Mai 1933, S 245f in diesem Band (Kap.XIX).

[16] Seeliger, Gott und die Schweinehundel, Hamburg 1925, S 8.

[17] Seeliger, Die Diva und der Diamant, Berlin 1922, S 226.

[18] Seeliger, Die Diva und der Diamant, Berlin 1922, S 219.

[19] Seeliger, Die Diva und der Diamant, Berlin 1922, S 237.

[20] Seeliger, Handbuch des Schwindels, 1986, S 280.