Drucken
Kategorie: Werke
Zugriffe: 2533

Über Peter Voß, der Millionendieb

von Max Heigl, 2013

Was geschieht im Jahre 2013, wenn ein Banker – nicht zu verwechseln mit dem redlichen Bankier seligen Angedenkens! – wenn also ein Banker heutigen Zuschnitts so lange und so hoch mit virtuellem Zaster spekuliert hat, bis die Börsendefinition in Ewger Seeligers Handbuch des Schwindels bestätigt wird: „Das Ziel jeder Börsentätigkeit ist die Börse des andern“ – im Jahre 2013 geschieht dann Folgendes: Es ergießt sich – wie bei dem Milliarden-Desaster der Hypo Real Estate Bank – wolkenbruchartig ein warmer Geldregen aus der Börse des Steuerzahlers in den umgekehrt aufgespannten Rettungsschirm, zu Nutz und Frommen der notleidenden Banker. Und alles ist wieder gut – für die Banker, bis die nächste Spekulationsblase platzt. Dann ergießt sich ... usw.

Vor exakt hundert Jahren, also 1913, antizipierte ein junger aufstrebender Poet namens Ewald Gerhard Seeliger ein Szenario dieser Art und demonstrierte am Beispiel eines US-amerikanischen Bankhauses den Schwindelkreislauf eines durch Fehlspekulation erwirtschafteten Defizits – und wie, zu Nutz und Frommen von Börsenjobbern und Spekulanten, aus dem „Weniger-als-nichts“ mit Hilfe des Kapitalistendogmas „Glaube macht selig, Credit macht seliger“ flugs ein virtuelles Börsenkapital entsteht, womit sich der mammonistische Schwindelkreis schließt. Der Protagonist dieser Schwindelgroteske ist ein gewisser Peter Voss, genannt der Millionendieb.

+ + +

Ewald Gerhard Seeligers Roman Peter Voß, der Millionendieb ist ein Kriminalroman ohne Mord, Leichen und Gewalt, ein perfekter Anachronismus in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts, wo die Norm literarischer Leichenproduktion dank amerikanischer und schwedischer Vorbilder bei rund einem halben Dutzend pro Kriminalfall liegen mag. Im Peter Voß wird weder geprügelt noch gefoltert noch gekillt, ein Kinnhaken ist das Nonplusultra an Gewalt; geraubt wird weniger als nichts, nämlich ein Defizit, und auch das hält sich bei bescheidenen zwei Millionen. Heute müßte der Titel wohl heißen: Peter Voß, der Milliardendieb, um den Aufwand bei der Lösung des Falles plausibel zu machen. Wegen dieses fiktiven Schwindelwertes jagen sich ein paar erwachsene Menschen mit allen verfügbaren Transport- und Verkehrsmitteln rund um den Globus. Ein aufgelegter Schwindel! Von Anfang an kennt der Leser den Täter samt allen Umständen des Delikts und ahnt das unvermeidliche Happy End; denn die Welt müßte einstürzen, sollte dieses Sympathiemonster Peter Voß nicht zuletzt und somit am besten lachen. Eine skurrile Zumutung also für den abgebrühten Krimikonsumenten eines Zeitalters, in dem Geiselnahme und -mord, Bankraub und finaler Rettungsschuß als live-showderhafte Horrorspektakel in alle Wohnstuben flimmern? Kein „Whodunit“ (Wer war´s?), kein „Whydunit“ (Warum hat er´s getan?) und kein „Howdunit“ (Wie hat er´s gemacht?), die Karten liegen von Anfang an offen – wo bleiben da Spannung, Täterquiz, Nervenkitzel, Gruselschauder? Trotzdem hat man diesen Roman innerhalb von gut 50 Jahren fünfmal verfilmt, hat ihn als Revue, Musical und Komödie auf die Bühne gebracht, und er hat als Buch, in viele Sprachen übersetzt, Auflagen in Millionenhöhe erreicht. Glaubt man sprichwörtlichen Platitüden, dann haben Bücher ihre Schicksale – dieser Roman und sein Autor haben ein sehr spezielles. Im Jahr 1912 erscheint eines Tages bei dem angehenden Erfolgsschriftsteller Seeliger in Wedel/Holstein ein Verleger namens Hobbing aus Berlin, bestellt drei Romane und nennt als reichlich kuriose Bedingungen: sie sollen inhaltlich lose zusammenhängen, sollen je Buch 20 Kapitel zu je 32 Seiten umfassen, keine Leichen enthalten und, wenn schon Revolver, dann, bitte schön, mit Platzpatronen. Kurz: er erwarte

  1. eine Kriminalgeschichte ohne Mord,
  2. eine Geschichte um einen Justizirrtum und
  3. eine irgendwie exotische Geschichte.

Termin: vier Wochen, und als Vorschuß ist ein Scheck über 3.000 Reichsmark für jedes Buch geboten. 1.920 Manuskriptseiten in vier Wochen – der Autor winkt ab, doch die resolute Ehefrau nimmt die Schecks an sich und befiehlt dem Gemahl, mit dem Schreiben keine Zeit zu verlieren. Er packt das Unmögliche an und bestätigt einen Wahlspruch seines Familienclans: Wir Seeligers können alles! Inwieweit dieser Vorgang der vollen Wahrheit entspricht oder der Neigung des Autors zu selbststilisierender Phantasie entsprungen ist, sei dahingestellt. Er fabuliert in Tag- und Nachtarbeit, verwertet eigene Weltreiseerfahrungen und das Tagebuch seines seefahrenden Bruders (als Roman: Mandus Frixens erste Reise bzw. Bark Fortuna), puscht mit viel Phantasie eigene Konflikte mit Justiz und Behörden zu literarischen Sujets hoch. Die weltskeptischen Lebensmaximen seines klugen Lehrer-Vaters lassen ihn den Schwindel als den Lebensnerv alles Seienden erkennen; die ebenso unbeweisbare wie unwiderlegbare Familienlegende, Seeliger sei ein „illegitimer, aber immerhin Nachfahr seines Hur-Urgroßvaters Goethe“ – das Zusammenwirken dieser und weiterer zwölf Dutzend Komponenten seines keimplasmatischen und pneumatologischen Daseins vollbrachten binnen vier Wochen das Wunder, das man vom späteren „Alten Hexenmeister“ und „Richtigen Lieben Gott“ füglich erwarten durfte. Bei aller Wundertracht – Irdisches spielte doch auch mit, denn just zum Ablieferungstermin trifft den verlegerischen Auftraggeber der Schlag, und Seeliger bleibt auf drei fertigen Manuskripten sitzen, eine PoSitzion, die nur dadurch erträglich ist, daß die Vorschüsse nicht zurückgezahlt werden müssen. Drei druckreife Romane – Das Paradies der Verbrecher, Max Doberwitz, der Tantenmörder und Peter Voß, der Millionendieb – suchen neue Verleger, und Peter Voß findet ihn bei Ullstein & Co in Berlin.

Bei Vertragsabschluß „ahnten weder der Autor noch der Verleger, daß sie dem deutschen Film gleichzeitig einen seiner dankbarsten Stoffe zugänglich gemacht hatten“ (Vorspann zur dritten Verfilmung 1944, mit Viktor de Kowa als Peter Voß und Karl Schönböck als Bobby Dodd). Diese Prophezeiung nimmt Hans Siemsen in der Weltbühne vom 31. März 1921 vorweg, als er die erste (Stumm-)Verfilmung Der Mann ohne Namen, mit Harry Liedke als Peter Voß, wie folgt rezensiert:

Der Mann ohne Namen ist von Robert Liebmann und Georg Jacoby nach dem Roman von Ewald Gerhard Seeliger: Peter Voß der Millionendieb für den Film zurechtgemacht. Ohne Zweifel ist Seeligers Roman mit Zola und Dostojewski nicht in einem Atem zu nennen – aber trotzdem, nein, eben deshalb ist der daraus entstandene Film ungleich netter und amüsanter als die mit Literatur und Psychologie belasteten Filme […] Von Psychologie ist in Seeligers Roman keine Spur. In dem danach gemachten Film auch nicht, und doch ist das ein ganz reizender Film. Was frage ich danach, ob diese Geschehnisse psychologisch motiviert, ja, ob sie überhaupt möglich sind! Das ist mir ja völlig einerlei. Sie wollen gar nicht so ernst genommen werden. Sie wollen unterhalten; weiter nichts. Und sie tun das auf eine charmante Art und Weise. Eine rasende Reihe von aufregenden, komischen, hübschen Bildern jagt herunter – und aufgekratzt und heiter verläßt man den Tempel der heiligen Kinematographie. Dank sei dem Regisseur: Georg Jacoby. Die Aufnahmen in Kopenhagen und am Meer sind ungewöhnlich gelungen, das Tempo ist mitreißend, und der ins Praktische übersetzte „Simultanismus“, das Nebeneinander gleichzeitiger, aber kontrastierender Situationen (Selbstmörder und Jazzband-Komiker, zum Beispiel) ist mehr als unterhaltend, ist auf- und anregend, ja fast erschütternd […] „Der Mann ohne Namen“ ist ganz gewiß keine „ärgerliche Angelegenheit“...“

Ist Peter Voß also lediglich eine wohlfeile Vorlage für eine Filmklamotte aus der guten alten Zeit? Es scheint so, denn die heutigen Generationen kennen allenfalls den Filmtitel, nicht aber den Namen oder gar die Bücher dieses Autors, der sein Leben lang unterwegs war, in der schlesischen Heimat, auf dem Erdball oder im Reich der schöpferischen Phantasie, ein Umtreiber und ein Umgetriebener, dem nichts fremd geblieben war, nicht Welt noch Menschen, nicht Höhen noch Tiefen in Beruf und Privatleben, nicht Triumph noch Krise – er kannte sie und stand sie durch mit seinem Lebensmotto: „Wer nicht mit mir ist, der ist wider sich.“ Messias Humor heißt deshalb auch der umfangreiche, nur fragmentarisch überlieferte und erst ein halbes Jahrhundert nach dem Tod des Autors erschienene autobiographische „Roman der Machtmagie oder die Entlarvung der Horden“, und allen Mächtigen hielt er unbeirrbar sein hexenmeisterliches Allheilpostulat entgegen: Entweder mitlachen oder abstinken!

Sein Leben ist ein verwirrendes Puzzle aus Masken und Rollen, die er sich an- und zulegte: ein Provokateur der Menschlichkeit, ein schlitzohriger Schalksbeutel und ernsthafter Zukunftsverdeutlicher, ein Welteidgenosse und in seine Muttersprache Vernarrter, ein kämpferischer Pazifist und radikaler Friedenshetzer, ein Haudegen des Humors und sturmdrangträchtiger Stoffwechsler, der „Richtige Liebe Gott“, der „Alte Hexenmeister“ und die Reinkarnation Goethes, der wiedergekehrte „Menschias“, das „Lamm“, und was immer er für Mystifikationen annahm oder zugesprochen erhielt, mit denen er seine Zeitgenossen verwirrte und mit hinterkünftigem Schmunzeln an der Nase dorthin führte, wo er sie haben wollte: zum „Richtigen Denken“. Hans Wollschläger nennt ihn deshalb einen „Feuerreiter der Aufklärung“ (vgl. Der Rabe XV, Haffmanns Zürich, S 200).

1906 entließ der beamtete Lehrer und seit Jahren erfolgreiche Verfasser von Romanen, Theaterstücken, Novellen, Balladen und zahlreichen journalistischen Publikationen den Staat aus seinen Diensten und fing an, als freier Schriftsteller regelrecht Bücher zu produzieren; er erzielte, sehr zur Freude seiner Verleger, in wenigen Jahren mehrere Hunderttausend Auflage – da geschah 1912 die Episode mit der skurrilen Trilogie. Und als 1913 der Peter Voß erschien, stieg Seeliger binnen kurzem zum Bestsellerautor und Publikums- und Verlegerliebling auf.

Kriegsausbruch und Etappendienst als freiwilliger „Friedensberichterstatter“ für die Vossische Zeitung leiteten die große Wende in seinem Leben, Denken und Schreiben ein. Noch während er den Peter Voß für Revue und Komödie einrichtete, erschien 1915 mitten in die Kriegshysterie hinein 300.000-fach der „pazifistisch durchtarnte pazifische Pseudokriegsroman“ Der gelbe Seedieb, eine raffiniert-verkappte literarische Sabotage am Hurra-Patriotismus der Zeit,

„in (der) alle fernöstlichen Problemnüsse, die erst im Zweiten Weltkrieg richtig aufgeknackt werden sollten, von mir herbeigerollt und, dreißig Jahre im voraus, ein wenig angebohrt worden sind“ (Messias Humor).

Begegnungen mit dem Theaterkritiker und Atheismus-Philosophen Fritz Mauthner, dem abendländischen Untergangspropheten Oswald Spengler, dem kontramarxistischen, aber eigentumskritischen Soziologen Franz Oppenheimer u. A., intensive Gespräche mit dem noch immer einflußreichen Skeptiker-Vater und die langjährige Freundschaft mit dem Blankeneser Dichter-Nachbarn Richard Dehmel schärften seinen Blick für zwielichtige Zeiterscheinungen und bewirkten schließlich die Konversion vom unterkühlt moralisierenden Literatur-Großproduzenten zum scharfzüngigen Sezierer von Staat und Gesellschaft, zum unbestechlichen Analytiker der menschlichen Torheit, zum bekennerhaften Pazifisten und Welteidgenossen, zum Satiriker und Streiter wider alle Obrigkeitsfaxen. Frucht dieser Wandlung war, neben dem Handbuch des Schwindels und tendenziell ähnlichen Werken, die neue Weltsicht mit der Grunderkenntnis vom Schwindel als Urmotiv alles menschlichen Treibens.

Er plant 1927 eine 20-bändige Gesamtausgabe, als deren erster (und einziger) Band der Peter Voß im Leipziger Claus Wessel-Verlag erscheint und den Seeliger 1929 mit den Erfahrungen von politischer Entwicklung und Weltwirtschaftskrise völlig neu gestaltet. Dieser neue Peter Voß ist neben der Urfassung von 1913 die einzige authentische Version; Verfilmungen – insbesondere die von 1957 und die TV-Serie der 70er Jahre – sowie spätere, ohne Seeligers Zutun erfolgte „Bearbeitungen“ haben m.E. mit Seeligers Intentionen seiner Millionendieb-Figur wenig gemeinsam. Seeliger verfolgt in den 20er Jahren mit polemischer Anteilnahme, wie der aus Landsberg entlassene „Terrorist Adolf H.“ (Otto Gritschneder) seine „Quatschional-Protzialistische Partei“ zur Massenbewegung ausbaut. Die Politik der Großmächte USA und Sowjetunion und ihrer minderrangigen Troßbuben England, Frankreich, Japan und China, vor allem aber die krisenhafte Entwicklung in der Weltwirtschaft animieren ihn zu einer „exaktwissenschaftlichen, also humormikroskopischen“ Analyse des Weltgedümmels der braungoldenen zwanziger Jahre. Er verknüpft das Weltreisemotiv seines Weltbestsellers Peter Voß mit seinem satirischen Seziertrieb, aktualisiert das erdballumspannende Detektivhistörchen von 1913 so gründlich, daß es zur Parabel von der Anbetung des Kapitalgötzen wird, zur Großsatire auf die unheilige Dreifalzigkeit von Kapitalismus, Militarismus und Staatsvergewalt. In diese Neufassung von 1929 geht all das ein, was dem „neuen Seeliger“ seit seiner weltanschaulichen und künstlerischen Konversion zugewachsen ist an Einsicht, moralischer Substanz und polemischer Aggressivität.

Der ursprünglich als epische Spielwiese gedachte Plot von der globalen Verfolgungsjagd erweist sich urplötzlich als idealer roter Handlungsfaden, an dem entlang Seeliger die Schauplätze der Voß/Dodd´schen Kapriolen, also die Moneten-Metropolen in Orient und Okzident, bis auf ihren politischen, wirtschaftlichen, sozialen, religiösen, ideologischen und was auch immer für einen Urgrund ausleuchtet und den Zasterkern ihrer Kapitalexistenz als Schwindel entlarvt.

Das Schwindel-Motiv, im Ur-Voß eine liebenswerte Melodie in einem amüsanten Promenadenkonzert, wird nun zum allbeherrschenden Generalbaß im mammonistischen Weltoratorium. Als Täuschung, Heuchelei, Betrug, Lüge, Korruption, Schmeichelei, Gaukel, Beutelschneiderei, Ausbeutung, Spekulation, Börsenjobberei – in allen denkbaren Maskierungen erscheint der Schwindel in Politik und Wirtschaft, in Wissenschaft und Religion, in Justiz und Militär. Er ist allgegenwärtig, ist nervus rerum und im Grunde ein Nichts wie das scheinbar entwendete Defizit, das die Hetzjagd um die Welt auslöst, um sich, wie vorgesehen, wieder in Nichts aufzulösen. Etwas Nichtvorhandenes schafft Werte, nur auf bloßen Glauben hin; das ist der Urgrund aller Spekulation und nach Seeligers Diktum das Schwungrad jeder Wirtschaftsordnung: „Glaube macht selig, Kredit macht seliger“, oder: „Je unglaublicher der Schwindel, um so leichter findet er Gläubige“, oder kurz: „Schiebung macht den Meister“. Wie weit sich nun der neue Peter Voß von seiner Urform entfernt hat, mögen ein paar vergleichende Beobachtungen zeigen. Geblieben ist vom „Ur-Voß“ die Grundstruktur des Handlungsrahmens: der vorgetäuschte Diebstahl aus edlem Motiv, die Weltreise als Verfolgungsjagd, der Wettstreit zwischen dem pfiffigen Helden und seinem scheinpfiffigen detektivischen Widersacher und das Happy End. Verändert hat sich aber eine ganze Menge, im Detail wie im Grundsätzlichen, im Innen- wie im Außenbau der Geschichte.

Begnügt sich der „Ur-Voß“ mit Titel und numerierten Kapiteln, so erhält die Neufassung mit „oder das entwendete Defizit“ einen programmatischen Untertitel, und jedes Kapitel ist mit pointierten sprachspielerischen Überschriften versehen, die Seeligers gewandelten Sprachgestus sichtbar machen (Paradies und Jagdschein, Magie der Manie, Vom Sanatorium ins Satanorium, Die roten Imker, Fuchs im Loch, Unken auf Öl). Die Sprache ist originell und unverwechselbar und zeigt wenig Gemeinsames mit dem bravbiederen Erzählduktus von 1913. Kaum eine Seite, auf der es nicht funkelt vor Pointen, Wortspielen, bewußt verqueren Metaphern, eigenwilligen Aphorismen und Bonmots, ungewöhnlichen und ungewohnten Wortverdrehungen und Neuschöpfungen bis hin zum behaglich ausgekosteten Kalauer (amtliche Greiforgane, Neurosenzirkus, Dollarika, Ma­nie­feldwebel, Psychodompteur, Relativitätspraxis, Menelaos­komplex u. A.). Die Vokabu­lie­rungsdrude Seeliger läßt ihrem Erfindungsdrang bisweilen allzu großherzig die Zügel schießen, nimmt ihn dann auch wieder hart an die Kandare von Logik und Sprachrationalität; amüsant in seiner ausufernden virtuosen Formulierungswut bleibt er immer.

In der romanhaften Autobiographie Messias Humor (erschienen im filos verlag Erlangen 2005) unterlegt Seeliger dem neuen Peter Voß ein Motto in fünfhebigen Reimpaaren, das zwar nicht ins Buch übernommen ist, wohl aber Seeligers veränderte Intention erkennen läßt:

„Soll und Haben heißt das Spiel der Spiele,

das da lenkt die Schiffs- und Federkiele

durch das Klippenmeer der Insolvenzen

in den Hafen der Profitfrequenzen;

wer vermag sich denn noch zu erheitern,

wenn die kühnsten Pluspiloten scheitern?

Und wo bleibt der Matador der Füchse,

der zerboxt Pandoras Minusbüchse,

jener unerschrocken exquisite

Stracksentwender unsrer Defizite,

die uns doch, wer darf sich Bessres gönnen,

allesamt gestohlen werden können?“

Verändert hat sich auch die Intensität des Schwindelmotivs über den schwindelhaften Ausgangspunkt, den Diebstahl aus edlem Antrieb, hinaus bis zum Schwindel als Grundmotiv alles Irdischen. Die wirtschaftliche Prosperität der USA ist Schwindel, weil sie nur dem Profit einiger weniger dient und nicht dem Wohl aller Menschen („Die verfluchte Prosperität! Überall Spitzbuben!“, klagt der fallierte Börsenspekulant und Bankier Stokes, Peter Vossens Oberboß). Gericht und Justiz sind Schwindel, denn „Schwurgerichtsreklame ist die beste Propaganda!“, wie Peter Voß seine Tat rechtfertigt, weil auch er ja „alles für die Firma“ tue. Ruhm und Erfolg des Detektivs Bobby Dodd sind Schwindel, denn sie beruhen auf der Zeitungshypnose („Sein Ruhm ist Schwindel auf Holzpapier!“). Die Welterlösungsideologie des Sowjetkommunismus wird als Schwindel erkannt, wenn der antikapitalistische Sowjetfunktionär Kucharin Peter Voß zuflüstert: „Millionendiebe haben bei uns Kredit, das versteht sich.“ Desgleichen beruht jede Wissenschaft auf Schwindel, denn „die Wissenschaften beruhen auf dem Vorhandensein von Mißverständnissen“, so der wegen Oppositionsverdachts ausgebootete Sowjetfunktionär und Wissenschaftler Kolski zu Peter Voß.

Solche bis zur Abstrusität getriebenen Qualifizierungen kanonisierter Institutionen und Werte mußten und sollten provozieren, nämlich Widerspruch und Nachdenklichkeit. Aus dem Unterhaltungsbüchlein war ein Vehikel bewußter Provokation geworden. Der parodistische Charakter wird jedoch besonders deutlich, wenn der Autor zum Schluß auch noch den Ton des Märchenerzählers relativiert: „So waren sie alle einigermaßen zufriedengestellt bis auf die ewig unzufriedene Jungfrau Prosperität...“. Man ist versucht fortzufahren: „Und wenn sie nicht gestorben sind ...“.

Aufgewertet wird die Neufassung auch dadurch, daß zeitgeschichtlicher Hintergrund und „Atmosphärilien“ der zwanziger Jahre in vielen Details plastisch hervortreten. Während die Spielhandlung des „Ur-Voß“ in einem fast irrealen Raum abläuft, in dem als Umwelt nur erscheint, was für die Protagonisten unmittelbar von Belang ist, sind die Geschehnisse jetzt eingebettet in die konkrete Wirklichkeit und erfahren Reflexion und Wertung seitens des Autors oder seiner Gestalten, mal im Scherz, mal im Ernst, stets aber gedanklich und sprachlich ins Schwarze treffend. Erkennbar wird diese Wirklichkeit in Namen und Orten, Vorgängen und Phänomenen wie Wilson, Einstein, Monilussi=Mussoli­ni, Prosperität, Prohibition, Flüsterkneipen, Jazz, Kokaingenuß und -schmuggel, Arbeitslosigkeit, Überkonjunktur, Börsenkrach, Reparationsleistungen, Faschismus, Völkerbund, Sowjetkommunismus, Abrüstung, Öl-Imperialismus, um nur einige zu nennen.

Der neue Peter Voß bewegt sich auf seiner Weltreise also nicht mehr in realitätsneutralen Phantasiewelten, die im Guten und Bösen auf ihn und seine Aktionen hin organisiert sind, sondern er hat es zu tun mit der für den Leser erkennbaren Alltäglichkeit bekannter und unbekannter Weltgegenden; dort hat er die ihm vom Autor zugedachte Aufgabe eines Wegbereiters für die Utopie einer vom Kapitalzwang erlösten Welteidgenossenschaft zu erfüllen. Die im „Ur-Voß“ so gehäuften Zufälle, Verkleidungen und oft krampfigen Nichterkennungsszenen sind drastisch reduziert und ersetzt durch logische, psychologisch motivierte Handlungen und Reaktionen, die nachvollziehbar sind. Die Vorgänge werden, trotz ihres schwindelhaften Grundtenors, glaubhafter und, trotz aller Absurditäten im Detail, seriöser.

Seeliger bezeichnet sich selbst gerne als urgründlichen Vorausdenker (vgl. Handbuch des Schwindels) und Zukunftsverdeutlicher und bestätigt diese Selbsteinschätzung im Peter Voß von 1929 mit einer verblüffenden Souveränität. Wie selbstverständlich läßt er seine Personen nicht in spekulativen, sondern in sehr logischen Zusammenhängen von der Unvermeidbarkeit des „nächsten Weltkrieges“ sprechen, und er gibt die zu erwartende einseitige Konstellation an, die aber aus der damaligen Sicht heraus zu erklären ist: „Die Großmacht gegen die Großmächte“, d.h. die USA gegen den Rest der nichtamerikanischen Welt. Dieser kommende Krieg ist ihm nichts anderes als die letzte Ausflucht aus der wirtschaftlichen Krise: „Und zuletzt gibt es aus dem großen Minus keinen anderen Ausweg als den nächsten Weltkrieg... Man baut doch keine Flotten, um sie in den Glasschrank zu stellen.“

Das Gleichgewicht des Schreckens, das er schon 1905 in Der Schrecken der Völker antizipiert hatte, malt er hier nochmals in Gestalt von giftgas- und sprengstoffgefüllten Frachtdampfern, mit denen sich die um die Weltherrschaft kämpfenden Riesenstädte gegenseitig so total zu zerstören drohen wie zur Zeit des Kalten Krieges die Supermächte mit ihren Atomwaffen. Als hätte er die 80er und 90er Jahre und danach vor Augen gehabt, stellt Seeliger lapidar fest: „Nun werden die allerhöchsten Profite von den Waffenfabrikanten und der Rauschgiftindustrie erzielt.“

Von der Modeerscheinung in den vornehmen Kreisen, Kokain zu schnupfen, schließt Seeliger auf die zunehmende Bedeutung und schließlich auf eine allmählich weltbeherrschende Stellung der Drogenfabrikation, wie sie in vielen Teilen der Welt heute Realität geworden ist. Im letzten Kapitel beschreibt er als Zuchtmethoden Eingriffe in die Erbmasse mittels „Epsilonstrahlen“, ... „die nicht nur drüsenanregende, sondern auch aufbauende und artenändernde (!) Wirkungen haben dürften.“ Das ist, mutatis mutandis, die Gentechnologie von heute, enthalten in einem angeblich trivialen Unterhaltungsroman von 1929.

Wie ein Mosaiksteinchen aus einem Porträt unserer Gegenwart mutet ein Statement über die Mode der Memoirenliteratur an: „Das ist die große Mode von heute und morgen. Erst frißt man möglichst viel aus, und dann veröffentlicht man darüber seine Memoiren, um Dollars zu scheffeln.“ Die Flut von Exklusivverträgen einschlägiger Täter – Spione, Generäle, Banker, Playboys, Landesväter – mit Illustrierten- und Buchverlegern aus unseren Tagen geben ihm uneingeschränkt recht.

Seeliger hatte während eines längeren Aufenthaltes in Basel das eidgenössische Gemeinwesen zusammen mit der humanistischen Geisteswelt des Erasmus von Rotterdam bewundern gelernt. Seitdem ist seine Großutopie die von der „verschweizerten Menschheit“ in einer „Welteidgenossenschaft“ („Der umsichtige, bedächtige Eidgenosse ist der Prototyp der Zukunft“). Sie verwirklichen zu wollen setzt voraus, daß die Staaten abgeschafft werden, denn „Völker können sich vertragen, wie das Beispiel der Schweiz lehrt, Staaten aber können es nicht“. Die Ursache für ihr bisheriges Ausbleiben sieht Seeliger in der Einführung der Maschine in den Wirtschaftsprozeß: „Seitdem sind die mit der Menschheit Staat machenden Amtshorden und ihre Millionenstädte ins Riesenhafte gewachsen und verhindern mit aller Gewalt die Verschweizerung der Welt“. Ersetzen wir die Maschine durch Computer, dann behält Seeliger – mutatis mutandis – auch hierin recht.

Liebenswertes Wunschdenken ist auch die Erfindung des „Antiheroin“, einer Droge, die alle Kampfkomplexe zerstört und „im Handumdrehen aus Wölfen Lämmer“ macht.

Diese humane Utopie treibt er bis zu einer friedlichen Weltbeherrschung, denn der Erfinder dieser Droge verspricht, durch ihre Verbreitung nicht nur alle Rauschgifthändler „an die Wand zu drücken“, sondern „auch alle zukünftigen Kriege verhindern zu können“. Heute sind Ersatzdrogen gängige Mittel im Kampf gegen Suchtabhängigkeit, und Abrüstung durch „Innenchemie“ ist, wenn auch nicht vom Mittel, so doch vom Zweck her eine höchst menschenfreundliche Utopie.

Daß jede fiktionale Literatur immer auch Autobiographisches enthält, ist eine Binsenweisheit. Seeligers frühe Bücher sind voll davon, seit seiner „Konversion“ verdichten sich die autobiographischen Bezüge wie zu einer „einzigen großen Konfession“. Der Peter Voß spielt auch in der Neufassung über weite Strecken in Schlesien, Hamburg und Berlin, wo Seeliger lange Abschnitte seines Lebens verbrachte; Peter Voß protestiert als junger Mensch gegen die landläufigen behördlichen Vorstellungen von Pädagogik und zieht Konsequenzen wie Seeliger selbst; die Vernehmungsgespräche beim Untersuchungsrichter 1922 und in der Irrenanstalt Haar 1923 ließen sich aus den Dialogen des Romans rekonstruieren (Landgerichtsrat Pätsch, Gefängnisdirektor, diensttuender Arzt in der psychiatrischen Anstalt), sie entsprechen auszugsweise wörtlich den Gutachten und Briefen, die von Seeligers Fall von 1922/23 erhalten sind. Und schließlich folgt Peter Vossens Absicht, sich den Jagdschein zu verschaffen, Seeligers eigenen Erlebnissen („Mit einem Jagdschein kann man auf die Jagd gehen, nötigenfalls sogar nach den Jagdscheinausstellern“).

Seeligers Leben nach 1929 verläuft im gewohnt bewegten Rhythmus bis zu dem Zeitpunkt, wo das erzwungene Schweigen beginnt. Vier Wochen vor der Machtvergreifung der „TratschionalKotzialisten“ läßt er in Berlin 10.000 Stück einer ätzenden Parodie auf das Horst-Wessel-Lied verbreiten, und kurz nach dem 30. Januar 1933 beginnen Schikanen durch die örtlichen Parteibonzen von Walchensee, denen er widersteht, solange die Vernunft dies zuläßt. Er gibt die Machthaber vor Ort der Lächerlichkeit preis, geht dafür in Schutzhaft und befreit sich durch eine schwejkische Gefängniskomödie, entrinnt knapp dem Anschlag eines SA-Schlägertrupps, emigriert vorübergehend in die Schweiz, taucht zwei Jahre später in Hamburg bei Freunden unter und lebt konspirativ unter dürftigen Umständen. 1936 wird er wegen seiner jüdischen Frau aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, kann jedoch unter stark eingeschränkten Bedingungen „harmlose“ Frühwerke publizieren. 1940 vernichtet der Bombenkrieg über Hamburg einen Großteil seiner Manuskripte; ausgebombt zieht er nach Cham im Bayerischen Wald und lebt bei Verwandten, taktisch schweigend, um die jüdische Frau und den halbjüdischen Sohn nicht zu gefährden. Seine Schwägerin Emma Kohn kommt in Auschwitz ums Leben, sein Schwager Henry Kohn wird in Dachau ermordet; die Schwägerin Zipora Kohn überlebt das KZ Theresienstadt, der Sohn Heinz Wolfram überlebt das KZ Schelditz/Rositz durch eine abenteuerliche Flucht.

1944 wird der Peter Voß ohne sein Wissen erneut verfilmt, die Figur des unverwüstlichen Stehaufmännchens soll angesichts des totalen Zusammenbruchs Durchhaltestimmung befördern, doch der Film kommt vor Kriegsende nicht mehr in die Kinos.

Die Nachkriegszeit ist Aufbauzeit, das bedeutet schlechte Konjunktur für einen vergessenen 68-Jährigen „Jagdschein“-Inhaber ohne Leserpublikum. Kein Bedarf an Querulanten und Nörglern! Das ihm rechtlich zustehende Honorar für den Tobis-Film von 1944 muß sich der Urheber des Stoffes durch mehrere Gerichtsinstanzen von der Nachfolgefirma Ufa-Treuhand erstreiten. Die mammonistisch hochsensible Finanzbehorde fordert von dem nunmehr „wohlhabenden“ Sozialhilfeempfänger das halbe Honorar als unrechtmäßig bezogene Fürsorgezahlung zurück: BehordenNoblesse! Vom verbleibenden Resthonorar spendiert Seeliger all seinen wirklichen Freunden ein verschwenderisches Gastmahl: Künstler-Noblesse!

Die vierte Verfilmung des Peter Voß 1957 mit O.W. Fischer bringt neuen Auftrieb, Pläne wachsen für eine Gesamtausgabe im Eigenverlag, Hoffnungen auf einen „humorigen Weltskandal“, am Ende -“Wer dies ernst nimmt, der will, daß ich mich über ihn lustig mache“ – liebäugelt er eulenspiegelhaft mit den Nobelpreisen für Frieden und Literatur in einem. Die fünfte Verfilmung als TV-Serie 1976 erlebt er nicht mehr, denn am 8. Juni 1959 beendet ein unglücklicher Sturz auf schrecklich banale Weise mitten im Planen und Projektieren das irdische Leben des „Richtigen Lieben Gottes“, von dem nichts geblieben zu sein scheint als die amüsante Unterhaltungsklamotte aus der guten alten Zeit vor hundert Jahren:

Peter Voß, der Millionendieb.